{Rezension} ICH: Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben von Mary MacLane


Lesedauer: 4 Minuten

Mary MacLane wünschte sich mit 19 Jahren nichts sehnlicher, als die Enge ihrer Heimatstadt in der amerikanischen Provinz zu verlassen. Mit 36 Jahren kehrt sie nun nach Montana zurück; eine turbulente und glamouröse Zeit in den Künstlerkreisen an der Ostküste liegt hinter ihr. Die Stadt hat sich nicht verändert, und doch ist nichts mehr wie zuvor.

Nach ihrem literarischen Debüt »Ich erwarte die Ankunft des Teufels« mit gerade einmal neunzehn Jahren und ihrer Veröffentlichung »Meine Freundin Annabel Lee« zieht die Kanadierin Mary MacLane in einer persönlichen Schrift Bilanz über sich selbst.

»Das Bewusstsein ist eine aufreibende Fähigkeit, eine schwere Last und ein wilder Reiz.«
Seite 12

In ihrem Tagebuchroman »ICH: Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben« stellt die scharfsichtige Beobachterin ihr jüngeres ›Ich‹ dem erwachsen gewordenen ›Ich‹ gegenüber, reflektiert und verschont sich dabei nicht vor ihrem eigenen kritischen Blick und einer ordentlichen Portion Selbstironie.

Kurze Kapitel, die sich zügig wegschmökern lassen, prägen auch dieses Buch der talentierten Schriftstellerin, allerdings ist der Ton im Vergleich zu ihren beiden anderen Werken deutlich melancholischer. Die Einsamkeit im ländlichen Butte als alleinstehende Frau über dreißig war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein einschneidendes Erlebnis, denn zu dieser Zeit gab es wenig Optionen in dieser Lebenslage.

Ungewöhnlich offen für die damalige Zeit legt Mary MacLane ihr Innerstes offen, schreibt von ihrem Verlangen, Sehnsüchten und Wünschen und seziert dabei ihr Selbst, dessen rebellische Ader zwar immer noch deutlich spürbar ist, im Vergleich mit ihrem Debütroman aber auch sanftere Betrachtungen einschließt und in sich gekehrte Momente zulässt.

[…] die Neigung, das Geschirr abzuspülen, nachdem man es zum Frühstück verwendet hat, fühlt sich eindeutig und angenehm bürgerlich an. Was nicht heißt, dass ich immer abwasche, aber immer denke ich daran und bin geneigt, es zu tun.
Seite 17


Der Tagebuch-Stil ermöglicht es aus einem Logenplatz heraus den Alltag und all die Gedanken, die die erwachsende Mary MacLane beschäftigen, zu beobachten. In ihren Stilmitteln wechselt sich die Autorin ab, mit Aufzählungen und Wiederholungen kreiert sie den Sound ihrer Tage. Ein bestechend fesselndes Zeitzeugnis für alle Leserinnen und Leser, die sich für eine starke Stimme aus der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts und Beginn des 20. Jahrhunderts interessieren.

Ich besitze zwei schlichte schwarze Kleider, das ist alles. Mehr brauche ich nicht. Mit diesen beiden Sätzen sind der Kern, der Grundtun und die fadenscheinige Verdammnis meines Lebens erfasst, so wie es vor mir liegt: meines Lebens, nicht meines Selbst, denn mein Selbst lebt nackt in der Arena meines Lebens.
Seite 27


Zwar vermochten mich nicht alle Einträge gleichermaßen zu begeistern, aber im Gesamtpaket betrachtet ist Mary MacLanes intime Bestandsaufnahme unheimlich unterhaltsam und vermittelt einen guten Eindruck ihrer Persönlichkeit, sodass man das Gefühl hat, die Schöpferin tatsächlich kennengelernt zu haben.


Diese weibliche Stimme aus dem Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert verdient Aufmerksamkeit. Absolut lesenswert!

★★★★☆

*WERBUNG*


Titel: ICH: Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben
Originaltitel: I, Mary MacLane: A Diary of Human Days
Autorin: Mary MacLane
Übersetzer: Mirko Bonné & Ulrike Draesner
Genre: Klassiker
Verlag: Reclam Verlag
ISBN-13: 978-3150113196
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 303 Seiten
Preis: 20,00 €
Erschienen: 27. August 2021

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Mary MacLane (1881–1929) wuchs in einer Bergarbeiterstadt in Montana (USA) auf. Mit ihrem ersten Buch wurde sie 1902 schlagartig berühmt, es folgten der Roman Meine Freundin Annabel Lee (1903) und weitere autobiographische Texte. MacLanes bohemehafter Lebensstil und ihre Bisexualität sorgten immer wieder für Skandale. Sie starb im Alter von 48 Jahren in Chicago.

Quelle: Reclam Verlag


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