{Rezension} Der französische Gast von Dorothy Whipple


Lesedauer: 4 Minuten

Das Familienglück von Ellen und Avery North ist perfekt. Sie leben in der ländlichen Umgebung von London und haben zwei wunderbare Kinder, Anne besucht ein Mädcheninternat und Hugh leistet seinen Wehrdienst ab. Die Besuche bei ihrer Schwiegermutter in London sind mehr Pflicht als Vergnügen und so wird die junge Französin Louise als Gesellschafterin eingestellt. Die elegante junge Frau erobert das Herz der alten Dame und beginnt auch den erfolgreichen Verleger Avery mit ihrem bestechenden Charme und einer ordentlichen Portion Unverschämtheit zu betören.

Ich liebe literarische Wiederentdeckungen und Dorothy Whipple zählt definitiv zu jenen, die man sich nicht entgehen lassen sollte, wenn man sich Gesellschaftsromanen mit Biss und scharfer Beobachtungsgabe nicht entziehen kann.

Die englische Schriftstellerin veröffentlichte erfolgreich Romane und Kinderbücher, bis sie in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs in Vergessenheit geriet. »Der französische Gast« war ihr letzter Roman und ist nun die erste deutsche Veröffentlichung eines ihrer Werke überhaupt. In ihrer Geschichte über die gefährliche Bedrohung einer langjährigen und glücklichen Ehe zieht sie aus einer trivialen Situation einen unterhaltsamen und mitreißenden Roman, der mich von der ersten Seite an zu fesseln vermochte.

Mit feinsinnigem Gespür zaubert Dorothy Whipple ein Ensemble mitreißender Persönlichkeiten auf ihre Romanbühne, die im Zusammenspiel eine hervorragende Energie verströmen und sich durch geschickte Verquickung der Erzählfäden eine kribbelnde Grundspannung aufbaut. Zwar erzählt Whipple ihre Geschichte nicht aus der Ich-Perspektive ihrer Protagonisten, dennoch gelingt es ihr mit einer geschickten Betrachtungsweise den Leser mitten ins Geschehen zu ziehen. Schließlich lässt sich die Situation der verheirateten Hausfrau und Mutter nur allzu gut nachvollziehen, deren für die Zeit typisch Stolzen und starrsinnigen Mann sich in die Fänge einer reizenden jungen Dame wiederfindet.

Ellen North ist dabei eine bodenständige Frau in den 40ern, die sich nichts aus Fashion und Geld macht und in ihrer glücklichen Familienblase Erfüllung findet und vielleicht gerade aufgrund dieser sicheren Stellung viel zu naiv im Umgang mit ihrem französischen Gast ist. Ganz im Gegensatz zu Ellen hat Louise aufgrund ihrer niederen gesellschaftlichen Stellung ihre große Liebe verloren und ist aus ihrer Heimat geflohen. Mit ihrem angekratzten Ego will die selbstsüchtige Louise unbedingt das Glück anderer an sich reißen, um ein Stück vom Kuchen der Wohlhabende abzubekommen.

Das gegenwärtige Geschehen steigert sich zusehends zu einem dramatischen Finale während man mit den einzelnen Charakteren mitfiebert. Klar hat Ellen mit ihrer liebenswürdigen Persönlichkeiten die Sympathie auf ihrer Seite, doch Dorothy Whipple ist es mit ihrem einfühlsamen Erzählstil gelungen, dass man sogar mit der affektierten und zerstörerischen Louise und Avery Mitgefühl empfinden kann. Auf jeden Fall darf man bis zuletzt gespannt sein, was Dorothy Whipple für ihre Figuren im Sinn hat!


Ein mitreißendes und dramatisches Possenspiel, dass sich auch über 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung unheimlich gut lesen lässt!

★★★★★

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Titel: Der französische Gast
Originaltitel: Someone at a Distance
Autorin: Dorothy Whipple
Übersetzerin: Silvia Morawetz
Genre: Klassiker, Gegenwartsliteratur
Verlag: Kein & Aber
ISBN-13: 978-3036958422
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 448 Seiten
Preis: 24,00 €
Erschienen: 11. Mai 2021

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Dorothy Whipple (1893–1966) war eine britische Bestsellerautorin von Romanen, Kurzgeschichten und Kinderbüchern. Während sie sich in den 1930ern größter Beliebtheit erfreute, gerieten ihre Werke nach dem Krieg in Vergessenheit. Die britischen Neuausgaben einiger ihrer Romane in den letzten Jahren trugen in ihrer Heimat wesentlich zu ihrer Wiederentdeckung bei. Der französische Gast (1953) war ihr letzter Roman und ist das erste Buch von ihr, das ins Deutsche übersetzt wurde.

Quelle: Kein & Aber Verlag


[…]gute Unterhaltung, für die Silvia Morawetz eine ebenso frische wie elegante Übersetzung fand.
literaturkritik.de, Nora Eckert

„Der französische Gast“ vermittelt ein wenig von den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, von ihren Gepflogenheiten und Sitten und ist doch im Kern zeitlos.
Palais F*luxx, Silke Burmester

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