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Der uneheliche Bauernsohn Gestur wird nach dem Tod seines Vaters von Ziehvater zu Ziehvater gereicht, bis er sein Schicksal in die eigene Hand nimmt und in die Fremde segelt. Als Gestur wieder in sein isländisches Heimatdorf Segulfjörður zurückkehrt und selbst Vater wird, erwacht in dem mittelalterlich geprägten Land durch die Norweger und die Heringsfischerei die Moderne.
Bisher war mir der isländische Kultautor Hallgrímur Helgason kein Begriff, doch die Lektüre seines neuesten Romans »60 Kilo Sonnenschein« hat diesem Missstand Abhilfe geleistet.
In seiner historischen Geschichte über das Island während der Jahrhundertwende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert, die eher einer humorvoll-skurrilen Saga gleicht, präsentiert Helgason seine Landsleute mit einer erfrischend satirischen Sicht auf die Gesellschaft im Wandel einiger Jahre, und schließlich den Umbruch in die Moderne auf diesem abgelegenen Fleckchen Erde.
»Isländer waren zäh und erfindungsreich, meistens hilfsbereit und improvisationsfähig, von allen Nationen am besten dazu in der Lage, mit überraschenden Situationen fertigzuwerden. Aber Weniges peinigte sie mehr als fixe Größen, gut vorbereitete Entscheidungen, Verträge und feststehende Pläne.«
Seite 117
Auf über 570 Seiten lässt uns Helgason in die malerische Landschaft Islands eintauchen und bringt uns deren Bewohner*innen, Traditionen und Lebensumstände näher. Seine Geschichte lebt dabei vor allen Dingen von urkomischen Begebenheiten und den fein gezeichneten, urigen und teilweise auch ziemlich schrulligen Charakteren. Die Mentalität der Isländer und der beschwerliche Umbruch vom vertrauten und beschaulichen Dasein in ein gänzlich anderes Leben stehen dabei im Fokus.
Selbst den düstersten Vorkommnissen wie dem Tod, der in den unwirtlichen Wintermonaten, einer ständigen Drohung gleichkommt, kann Helgason einen belustigenden Anstrich verpassen ohne das es aufgesetzt und unpassend wirkt. Menschen binden sich des Nachts mit einer Leine aneinander, um nach einer Lawine leichter gefunden zu werden oder der Pfarrer hat bei seinen Besuchen in den Grassodenhäusern seiner Gemeinde immer genügend Schafsfruchtblasen dabei, denn diese sind den Bewohner*innen um einiges lieber als moralische Predigten.
Helgason präsentiert in »60 Kilo Sonnenschein« eine bestechende Mischung aus märchenhaften Fjorden, der unbarmherzigen wie auch schönen Natur Islands, die durch ihre Isolation vom Rest der Welt geprägten Einwohner, sowie historischen Fakten. Der ruhige Handlungsverlauf wird durch Helgasons Erzähltalent, seinem Gespür für unterhaltsame Anekdoten und Authentizität zu einem besonderen Leseerlebnis.
»Wer stets zwischen zwei beinhart zementierten Standpunkten pendelt, wird am Ende selbst zu einem müden Pendel.«
Seite 345
Durch diesen fiktionalen Roman geht man mit der Geschichte und den Traditionen der Isländer auf Tuchfühlung und lernt die raue Natur kennen, die das Naturell der Insulaner nachhaltig geprägt hat. Besonders hervorzuheben sind die fein gezeichneten Charaktere und die gestochen scharfen gesellschaftlichen Betrachtungen, die mich immer wieder an Klassiker der Weltliteratur von Jane Austen oder George Eliot erinnerten. Ein unterhaltsames Epos mit bestechendem Erzähltalent dargeboten!
Titel: 60 Kilo Sonnenschein
Originaltitel: Sextíu kíló af sólskini
Autor: Hallgrímur Helgason
Übersetzer: Karl-Ludwig Wetzig
Genre: Historischer Roman
Verlag: Tropen Verlag (Klett-Cotta)
ISBN-13: 978-3608504514
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 570 Seiten
Preis: 25,00 €
Erschienen: 14. Oktober 2020
Hallgrímur Helgason, geboren 1959 in Reykjavík, besuchte nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe in Reykjavík für ein Jahr die Kunstakademie in München. Seinen Durchbruch feierte er mit 101 Reykjavík, der kurze Zeit später verfi lmt wurde. Es folgten die Bestseller Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen (2011) und Eine Frau bei 1000°. Helgason ist einer der international erfolgreichsten Autoren Islands
Quelle: Klett-Cotta
Hallgrímur Helgason ist mit „60 Kilo Sonnenschein“ ein großer Wurf gelungen. Man möchte fast sagen „ein großer Fang“, mit Blick auf eine der vielen Szenen, die der Leser wie ein Gemälde vor sich sieht.
NDR, Tobias Wenzel
Das Buch wagt viel Gefühl, eine pralle Sprache und kann – was man gar nicht so oft hat – eine herzzerreißende Leseerfahrung sein.
BR, Beate Meierfrankenfeld
Hallgrímur Helgason erzählt in der fulminanten, episch breiten Saga mit großer Fabulierlust von gesellschaftlichen Veränderungen und vielen skurrilen Menschen.
Dieter Wunderlich
Mich erinnerte das Buch vom Stil her etwas an einen Charles Dickens Roman, bloß mit mehr Humor.
Litla Gletta
Wer originelle, aberwitzige Prosa mag, wird sich in diesen Roman „schockverlieben“.
Schreiblust Leselust