{Rezension} Tell von Joachim B. Schmidt


Lesedauer: 4 Minuten

In den Schweizer Alpen lebt der eigenbrötlerische Wilhelm Tell, der eigentlich nur ein ruhiges und überschaubares Leben führen will. Doch die Herrschaft des Habsburger Landvogtes Gessler und seine tyrannischen Soldaten unter dem Befehl des Macht- und Blutdurstigen Harras zerstören den ländlichen Frieden und schikanieren die arme Bevölkerung. Durch seine Wilderei gerät Tell in Harras Visier. Die Herausgabe des Fleisches genügt nicht, so wird auch der Leiterwagen konfisziert und Wilhelms Mutter schwer verletzt. Als Tell sich in seiner Überlebensnot dazu genötigt sieht ihre Kuh zu verkaufen und auf dem Weg zum Markt unwissentlich einen Faupax gegenüber dem Landvogt begeht, spitzt sich die Lage zu und eine Heldensage nimmt ihren Lauf…

Wer, so wie ich, die sagenhafte Geschichte um den Schweizer Volkshelden Wilhelm Tell aus Schillers Feder nicht kennt, ist bei Joachim B. Schmidts Neuerzählung »Tell« genau an der richtigen Adresse. Ein einfühlsames und bewegendes Buch, mit viel Herz und rasant wie ein spannender Pageturner.

Ich kann nun zwar keinen Vergleich zu Schillers Originalversion aus dem Jahr 1804 anstellen, doch kann ich das grandiose Handwerk Joachim B. Schmidts loben, denn genau wie in seinem Debüt »Kalmann« ist es dem Autor gelungen den Mensch in den Vordergrund einer mitreißenden Geschichte zu stellen, die einen so schnell nicht mehr loslässt.

Vater gleicht einem Berg. Man kann ihn nicht verrücken, an ihm entladen sich die Gewitter, und er wirft einen langen Schatten. Er lacht nie, und ich glaube, er mag niemanden.
Seite 96


Erzählt wird in knackig-kurzen Episoden aus der Perspektive von 20 unterschiedlichen Protagonisten – von Bauern, Männern wie Frauen, Töchtern, Söhnen, Soldaten, dem Dorfpfarrer sowie natürlich Tell, Gessler und Harras selbst – die in ihrem schnell aufeinanderfolgenden Takt für ein fesselndes Leseerlebnis sorgen, bei dem die Menschen im Mittelpunkt der Handlung stehen.

Titelheld Tell lernt man zunächst durch die Brille seiner Familie kennen und bekommt durch die Wahrnehmung seiner Söhne, Ehefrau, Mutter und Schwiegermutter einen ersten Eindruck des eigenwilligen und grummeligen Mannes, der trotz seiner verschrobenen Art ein guter Mensch ist, der genau spürt, was sich gehört und was nicht. Tell gerät dabei jedoch nicht zum geschönten Abziehbild eines glorreichen und perfekten Helden, sondern wird durch eine Vergangenheit geprägt, die ihn mit sich und seinen Fehlern hadern lässt.

In diesem Stile wird auch Landvogt Gessler mit seiner warmen Seite als Ehemann und Vater gezeichnet, der sich nach seiner Familie verzehrt und die politischen Ziele der Habsburger gegenüber den Bauern nur widerwillig mit Gewalt durchsetzt, wodurch er zu einem Dorn im Auge des listigen Harras wird und auch gegen seine Einstellung handeln muss, um seine Position nicht zu gefährden.

Die Alpen sind kolossal, aber die Welt, in der wir uns bewegen, ist winzig klein.
Seite 154

Das alles vor der eindrucksvollen Kulisse der Schweizer Alpen, welche fast unmerklich durch die Handlung zum Leben erweckt wird. Ein absolut mystisches Setting, das den perfekten Hintergrund für diesen fulminanten Lesekracher mit mehr als nur einem Helden liefert. Denn auch die weiblichen Figuren werden hier mit Stärke ausgestattet und der junge Walter verfügt über ein aufgeschlossenes Wesen, dass im starken Kontrast zu Tell besonders hell leuchtet.

Sie leben nach ihren eigenen Gesetzen und verteidigen sich in der Not eben selbst.
Seite 246

Die idyllische Romanze der Bergwelt wird von einer immer größer werdenden Gewaltspirale beherrscht, die sich in vielerlei Gestalt – seien es Plünderungen, Missbrauch oder Unterdrückung – zeigt. Da ist der sagenumwobene Schuss eines Apfels vom Kopfe des Sohnes mit der Armbrust nur ein Mosaiksteinchen im Gesamtbild.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Weltlage ist »Tell« eine durchaus aktuelle Lektüre, die unbedingt zum mitfiebern einlädt.


Joachim B. Schmidts Neuinterpretation der Tell-Saga ist ein fulminantes Erzählkino von der ersten bis zur letzten Seite und auch für alle, die den Mythos um den Schweizer Volkshelden noch nicht kennen bestens geeignet.

★★★★★

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Titel: Tell
Autor: Joachim B. Schmidt
Genre: Gegenwartsliteratur
Verlag: Diogenes
ISBN-13: 978-3257072006
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 288 Seiten
Preis: 23,00 €
Erschienen: 23. Februar 2022

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Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten, Journalist und Kolumnist. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavik.

Quelle: Diogenes Verlag


Joachin B. Schmidt hat einen zeitlosen Roman geschrieben, der unseren moralischen Kompass nicht hohl drehen lässt. Das ist der Nordpol. Daran kann man sich ausrichten.
AstroLibrium

Durch seinen einzigartigen, klaren und so herrlich treffenden Schreibstil, die filmreifen Charaktere und die absolut stimmige Handlung ist „Tell“ für mich ein Lesehighlight für 2022.
Lesendes Federvieh

Es sind elementare Dysbalancen im Machtgefälle, die uns heute wie vor hunderten von Jahren beschäftigen. Joachim B. Schmidt hat sie an der Sage des Volkshelden Wilhelm Tell abgearbeitet und in ein zeitgenössisches Kolorit verpackt. Spannend, dynamisch, gut!
Schreiblust Leselust

Es gibt starke Szenen, zahlreiche gute Dialoge, überraschende Cliffhanger – das Buch könnte das Zeug zum Bestseller haben.
SWR2, Alexander Wasner

Er [Joachim B. Schmidt] entstaubt die Tell-Legende von jeglichem romantisierendem Helden-Kitsch.
booknerds

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