Ein paar Worte vorweg…
Eine liebe Arbeitskollegin erzählte mir, dass es seit ein paar Jahren auch bei uns in der Stadt einen Lesekreis von eat.READ.sleep (einer NDR-Podcast-Produktion) gibt. Beim Januar-Termin möchte ich nun endlich das erste Mal mit dabei sein und dazu habe ich nun eines der beiden ausgewählten Bücher, »Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne« von Saša Stanišić und »Stadtgeschichten« von Armistead Maupin gelesen. Ich habe mich für das Buch mit dem wohl längsten Buchtitel der Buchgeschichte und dem wunderschönen Postkartenmotiv-Cover entschieden und los geht’s.
In einem Anproberaum des Lebens für zehn Minuten Ausschnitte einer möglichen Zukunft zu erhaschen und bei gefallen einzuloggen ist die technische Innovation, welche sich einer der Immigranten-Jungen bei ihrem Treffen in den Weinbergen zusammenfantasieren. Welch großartige Möglichkeiten böte dies und was für Kräfte würde dieses Wissen in uns freisetzen, auch wenn wir genau wissen, dass die Zukunftschancen durch unsere Herkunft und Stammbaum stark eingeschränkt sind?
Für seinen 2019 erschienenen, autobiographischen, Roman »Herkunft« wurde der deutsch-bosnische Schriftsteller Saša Stanišić mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Meine erste Berührung sollte nun also das aktuelle Werk mit dem sperrigen Titel »Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne« werden, und auch hier lässt der Autor seine Leserschaft durch Einflüsse aus seiner Biographie nah an sich heran.
»Für manche ist das Glück bloß umständehalber spärlicher gesät.«
Neue Heimat/Seite 6 im eBook
Ein paar seiner zwölf Kurzgeschichten, z. B. ›Neue Heimat‹, beschäftigen sich mit dem Thema Herkunft, Immigration und der trostlosen Aussicht auf eine nicht ganz so rosige Zukunft. Der Chancenungleichheit möchte einer von Sašas Freunden bei ihren Treffen in den Weinbergen mit seiner Erfindung eines „Anproberaums“ entgegenwirken. Ein Blick in eine mögliche Zukunft böte, egal ob gute oder schlechte Aussichten, Ansporn sich im Leben anzustrengen und sich selbst seine Träume zu erfüllen.
Als wäre es einfach, aus einem Leben zu steigen und in ein anderes zu springen.
Traumnovelle/Seite 27 im eBook
In ›Traumnovelle‹ lebt die Einwanderin Dilek ein Leben, dass sie sich nie gewünscht hat und träumt davon, die Zeit anzuhalten und in ein anderes Leben einzutauchen. Dabei werden ihre Wünsche als junge Frau wach und sie erkennt, dass sie selbst für ihre Lebensträume einstehen muss, schließlich gehört alles denen, ›die nicht stehen geblieben sind‹.
Zum Doppelkopf triffst du dich, weil du beim Doppelkopf nicht spürst, dass die Zeit existiert.
Gründe einer Verspätung/Seite 94 im eBook
Die wohl fantasievollste Story dieser Anthologie ist für mich ›Gründe einer Verspätung‹, in der sich eine bunte Gruppe regelmäßig zum Doppelkopf spielen trifft. Mo ist der Tagträumer und notorische Zuspätkommer, der aber immer wieder mit seinen wilden Geschichten für Aufsehen sorgt, die doch niemals wahr sein können, oder? Ist es nicht schön, diese einfach auf sich wirken zu lassen, ohne gleich alles mit ihrem Realitätsgehalt zu entzaubern? Mich hat diese Story auf jeden Fall sehr amüsiert, lässt sie einen mit alltäglicher Schlichtheit für einen Moment Sorgen und Ängste vergessen und auf einmal existiert Zeit und Raum nicht mehr.
Trag ein, was dich ausmacht, sodass du senkrecht und waagrecht einen Sinn ergibst.
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne/Seite 130 im eBook
Besonders bewegt hat mich die titelgebende Geschichte ›Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne‹, welche von der größer werdenden Problematik der Einsamkeit im Alter handelt. Denn Gisel hat ihren Partner verloren und versucht nun herauszufinden, ob sie nun wieder bereit ist, neue Bekanntschaften zu schließen. Der Autor erzählt diese Geschichte mit so viel Herz und Emotion, dass man sich Gisel nahe fühlt und sich am liebsten mit ihr zu einem Stückchen Schwarzwälder Kirschtorte gesellt.
Mein erster Kontakt mit Saša Stanišićs Schreibkunst lässt mich zufrieden zurückblicken auf eine ausgesprochen unterhaltsame, tiefgründige und hoffnungsschimmernde Lesezeit. Denn auch wenn es sich um schwere Themen handelt, versteht es der Autor diese mit so viel Esprit, Einfallsreichtum und Komik zu erzählen, dass diese mit einer angenehmen Leichtigkeit gut zu verdauen sind.
Diese Anthologie begleitet unterschiedliche Protagonisten durch die verschiedensten Lebensabschnitte und ohne es zu Beginn erahnen zu können, finden zu einem späteren Zeitpunkt die einzelnen Storys (zumindest teilweise) eine Verbindung zueinander. Stanišić wechselt in den Geschichten Erzählweise und Sprache sehr geschickt, sodass man das Gefühl hat, hier gleich mehrere kleine Romane zu lesen. Ich persönlich habe lieber ausführliche Romane und das Problem, dass bei Anthologien immer wieder Storys enthalten sind, die mich im Vergleich der Geschichten nicht so abholen können. Das war hier kaum der Fall und so kann ich dieses feine Buch nur wärmstens weiterempfehlen.
Pure Freude, solch ein spezielles Leseerlebnis geboten zu bekommen, und das bei lose verketten Kurzgeschichten, die mit überraschendem Tiefgang bestechen.
Titel: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
Autor*in: Saša Stanišić
Genre: Gegenwartsliteratur
Verlag: Luchterhand
ISBN-13: 978-3630877686
Format: Gebundenes Buch
Seitenanzahl: 256 Seiten
Preis: 24,00 €
Erschienen: 30. Mai 2024
Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Seine Werke wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und viele Male ausgezeichnet. Saša Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg. Er ist dort Fußballtrainer einer F-Jugend.
Quelle: Penguin
Literaturreich
Es lohnt sich den literarischen Anproberaum der (eigenen) Zukunft zu betreten und dieses Buch zu lesen.
Kopfzeilenmagazin
Sollte Euch Eure Anprobe eine wundervoll heitere und zugleich tiefgründige Lesezeit mit „Möchte die Witwe angesprochen werden,..“ von Saša Stanišić vorhersagen – bitte unbedingt einloggen.
Booknerds, Eva Bergschneider
Das klingt sehr schön. Ich habe mir kürzlich Heimat vom Autor gekauft, da es in meinem Lieblingsbuchladen ein signiertes Exemplar gab und es mich eh schon lange interessiert hat. Vielleicht kann ich bald die Ruhe dafür finden.
Liebe Grüße
Sandra